«Bau­kul­tur gab frü­her we­ni­ger zu re­den»

Zukunft der Schweizer Baukultur

Seit fünf Jahren setzt sich der SIA auf gesellschaftlicher und politischer Ebene für die Baukultur ein. Doch was ist Baukultur? Auf welchen Werten beruht sie? Ist sie wirklich gefährdet? Was hat sie mit Interdisziplinarität zu tun? Drei Baufachleute der SIA-Spitze äussern sich im Gespräch.

Publikationsdatum
01-09-2015
Revision
22-11-2015

Was verstehen Sie als Gebäudetechniker, Architekt oder Bauingenieur unter Baukultur?
Stefan Cadosch: Baukultur entsteht, wenn der Mensch mit Bedacht und Qualität in seine Umgebung eingreift. Damit meine ich nicht nur herausragende Leistungen. Alpine Bergdörfer zum Beispiel, die harmonisch in die Landschaft eingefügt sind, zeugen oft von einer herausragenden Baukultur, ganz ohne Spitzenarchitektur oder Spitzeningenieurkunst. Es ist eine Frage von Identität und Vielfalt.
Adrian Altenburger: Ich messe meine Arbeit an drei baukulturellen Kriterien. Erstens kommt die Bedarfsgerechtigkeit. Zweitens die Ästhetik, auch wenn dieser Aspekt bei uns Ingenieuren nicht so naheliegend erscheint – ich habe die Erfahrung gemacht, dass hinter einem «unschönen» Gebäudetechnikplan höchstwahrscheinlich auch kein besonders gutes Engineering steckt. Intelligente Lösungen sind in der Regel auch schön, bedingen aber eine intensivere Auseinandersetzung mit der Aufgabe. Und drittens die Nachhaltigkeit.
Daniel Meyer: Als Tragwerksplaner erhebe ich auch einen hohen ästhetischen Anspruch. Natürlich muss ein Bauwerk funktional sein, aber wenn man mit Bedacht in die Umwelt eingreift, ist die Gestaltung ebenso wichtig. Infrastrukturbauten wie eine Staumauer oder eine Kläranlage stellen massive Eingriffe in ihre Umgebung dar; ihre Erscheinung darf nicht nur von funktionalen Kriterien diktiert sein. Es ist ein Jammer, dass der Begriff Baukultur in der Ingenieurausbildung nicht etabliert ist. Angemessene Schönheit müsste bei jedem Projekt ein Thema sein!
Altenburger: Es geht darum, eine möglichst elegante Lösung für die jeweilige Bauaufgabe zu finden. Dies gilt auch für die Gebäudetechnik: Sie ist oft nicht sichtbar, aber trotzdem gibt es elegantere und weniger elegante Projekte. Baukultur bedingt in erster Linie eine intellektuelle Leistung. Und sie ist in höchstem Mass gefährdet.

«Baukultur bedingt eine intellektuelle Leistung.» Adrian Altenburger

Warum?
Altenburger: Weil Identität und Vielfalt verschwinden. Gebiete auf der ganzen Welt, die vor 50 Jahren noch klar unterscheidbar waren, sehen heute alle gleich aus. Keine Grossstadt auf keinem Kontinent kommt ohne standardisierte Starbucks-Filiale aus. Dieser globale Einheitsbrei gefährdet die kulturelle Vielfalt und damit auch die Baukultur.

Das ETH Studio Basel hat die gegenteilige These aufgestellt: Zwar würden sich die urbanen Geschäftszentren weltweit angleichen, doch in den Quartieren, in denen das Leben stattfindet, würden sich die Städte unaufhaltsam wieder differenzieren.1
Altenburger: Wo baukulturelle Substanz bereits vorhanden und als solche anerkannt ist, wird sie wahrscheinlich weiter bestehen. Auf der grünen Wiese bin ich weniger optimistisch. Wir stehen erst am Anfang einer Entwicklung.
Cadosch: Der Mensch strebt nach Kultur. Seine Bauwerke sollen zwar eine Funktion erfüllen, doch sobald das gelingt, erwacht sein Bedürfnis nach mehr. Es wird ihm immer ein Anliegen bleiben, einen kulturellen Fussabdruck zu hinterlassen. Trotzdem müssen wir aufpassen, dass die Baukultur als spezi­fisches Thema nicht aus dem Fokus rückt. 
Früher, wenn ein Bergbauer einen Hof gebaut hat, musste er auf lokale Materialien und lokales Know-how zurückgreifen; und er war stolz darauf, auf diese Weise seine baukulturelle Identität aus­zudrücken. Das war so selbstverständlich, dass man nicht darüber sprach. Heute ist alles verfügbar. 
Wer will, kann auch eine Hacienda oder eine Jurte aufstellen. Unsere baukulturelle Identität – ein Teil unserer Identität – geht verloren. Das ist eine verheerende Tendenz, die aber von der öffentlichen Wahrnehmung praktisch ausgeklammert bleibt. Tageszeitungen behandeln baukulturelle Fragen, falls überhaupt, nur nebenbei, im Gegensatz etwa zu Literatur oder Kunst. 

Liegt dieses Desinteresse nur am Überangebot an technischen und stilistischen Möglichkeiten?
Cadosch: Wir Fachleute sind daran mitschuldig, weil wir intern diskutieren, anstatt uns in einer öffentlichen Debatte für unsere Anliegen einsetzen. Wir müssen die Sorge um unsere Baukultur im öffent­lichen Bewusstsein verankern, auch politisch. Das breite Publikum neigt dazu, Bauten als Konsumgüter zu begreifen und Baustile je nach Mode und Lifestyle zu kombinieren.
Dieses Streben nach Individualität ist nicht per se schlecht; es geht um die richtige Balance. Auch unser Bergbauer hat seinen Hof individuell gestaltet: Das Gebäude war Ausdruck der lokalen Baukultur, doch ausgewählte Teile wie der Schlussstein oder der Hauptbalken waren einzigartig. Dieser Wille, die eigene Identität in Stein zu verewigen, ufert heute aus, weil die regulierenden Randbedingungen – wie die eingeschränkte Verfügbarkeit von Techniken und Materialien – weggefallen sind. 
Altenburger: Kürzlich hatte ich mit einem Bauherrn zu tun, der auf einer Insel vor Shanghai eine riesige Überbauung erstellt: dicht aneinander gereihte Einfamilienhäuser im «italienischen Stil». Toskanische Villen im Copy-and-Paste-Verfahren! Sie scheinen sich gut zu verkaufen.

Copy-and-Paste-Architektur hat es schon in der Antike gegeben. Und die gotischen Kathedralen, die man im Mittelalter fast in ganz Europa gebaut hat, waren das Ergebnis einer für die damalige christ­liche Welt «globalen» Bewegung …
Altenburger: Das war eine Frage des Stils, nicht der Kultur. Die Stile haben sich geändert, aber die religiösen Werte dahinter waren fest verankert und ebenso der Anspruch, sie zu leben. Bei Projekten wie den toskanischen Villen geht es nur um das Bild. 
Cadosch: Wenn die Erscheinung eines Gebäudes nichts mehr mit seinem Sinn und Zweck zu tun hat, ist das wie ein unsichtbarer Bruch. Früher oder später spürt jeder, dass etwas nicht stimmt, dass etwas Vitales fehlt, und fühlt sich unbehaglich.

«Die Lösungen, die wir heute vorlegen, wirken oft banal und pragmatisch.» Daniel Meyer

Meyer: Das Beispiel des Bergbauern, der in aller Selbstverständlichkeit seine baukulturelle Identität lebt, ohne viele Worte darüber zu verlieren, finde ich bezeichnend. Wir unterhalten uns heute über ein Thema, das vor zwei Generationen vermutlich weniger zu reden gegeben hat. Ich denke etwa an die 1950er-Jahre, als man in der Schweiz die grossen Infrastrukturen angelegt hat. 
Es fällt auf, wie elegant die Linienführung der damaligen Autobahnen in die Landschaft eingebettet ist. Die Bevölkerung war auch stolz auf diese Infrastrukturbauten, identifizierte sich stark mit ihnen und bewunderte das Tun der Ingenieure. Im Gegensatz dazu wirken die Lösungen, die wir heute vorlegen, grösstenteils banal und sehr pragmatisch. 
Vielleicht hat das damit zu tun, dass sich eine gewisse Selbstverständlichkeit eingeschlichen hat und damit auch der Respekt, die Anerkennung und das kulturelle Bewusstsein für unsere Infrastruktur verloren gingen. Trotzdem bin ich optimistisch. Ich denke, dass uns dieser rein funktionalistische Zugang auf die Dauer nicht vorwärts bringen und letztendlich auch langweilen wird und dass wir wieder zu einem selbstbewussteren und somit auch kultivierteren Denken finden werden. Wir müssen allerdings dafür sorgen, dass es bei dieser Auf- und Abbewegung keine Verluste gibt. 
Altenburger: Das glaube ich auch. Ich bin überzeugt, die europäische Baukultur wird trotz der billigen Kopien überdauern, die heute überall entstehen. In fünfzig Jahren werden die toskanischen Villen in Shanghai niemanden mehr interessieren, die Originale dagegen schon.

Vorausgesetzt, sie stehen dann noch. Wie können wir unwiederbringliche Verluste vermeiden?
Meyer: Unter anderem mit einer guten Ausbildung. Baukultur ist an den Schulen zu thematisieren. Gerade bei den Ingenieurinnen und Ingenieuren müssen wir das Bewusstsein wecken, dass sie mit jedem einzelnen ihrer Werke an einem baukulturellen Ganzen mitwirken. In der Architekturausbildung ist das selbstverständlicher.
Wenn wir Ingenieure uns nicht als reine Technokraten verstehen, sondern als selbstbewusste Träger unserer Baukultur, und wenn wir auch entsprechend auftreten, wird unser Beruf eine andere gesellschaftliche Anerkennung erhalten. Heute steht es damit bekanntlich nicht besonders gut. Ich habe selbst erlebt, wie die Leistung des Bauingenieurs eins zu eins mit derjenigen des Teppichlegers gleichgesetzt wurde, obschon die Verantwortungen so extrem unterschiedlich sind: Beide arbeiten für 100 Franken die Stunde, und beide erbringen die bestellte Standardleistung. Dieses Denken hat sich leider international schon weit verbreitet und scheint sich allmählich auch in der Schweiz einzunisten. Es geht um unsere Zukunft als Baufachleute!
Altenburger: Wichtig ist, dass wir das baukulturelle Erbe nicht nur bewahren, sondern auch weiterführen; dass wir unser planerisches und bauliches Handwerk beherrschen. Wenn wir uns nicht mehr mit unserer Arbeit identifizieren und unseren Berufsstolz verlieren, verkommt das Bauen zu einer beliebigen Massenindustrie. 

Wäre das automatisch das Ende der Baukultur? Dass die industrielle Fertigung ältere Handwerksformen verdrängt, kennen wir seit dem 19. Jahrhundert.
In der Textilproduktion verschwinden spezialisierte Techniken, weil industrielle Massenprodukte die handgefertigten Kostbarkeiten ersetzen. Bei den Autos ist es ähnlich: Selbst spezialisierte Mechaniker sind heute unfähig, die kaputte Elektronik eines Autos zu reparieren, und ersetzen stattdessen den ganzen Bordcomputer. Das bedauern wir. Trotzdem sind wir nicht bereit, uns handgemachte Spitzen zu leisten oder auf den Komfort moderner Autos
zu verzichten. Warum soll es beim Bauen anders sein?
Cadosch: Es stimmt: Die Geschichte der Menschheit zeigt, dass immer etwas verloren geht, wenn Neues entsteht. Die Herausforderung ist, mit diesem Neuen wieder kulturelle Werte zu erschaffen, die eine Identifikation ermöglichen. Wenn das Neue nur dazu dient, alles zu vereinheitlichen und zu rationalisieren, bin ich skeptisch …
Das Beispiel der handgeklöppelten Spitzen zeigt deutlich, dass es im Handwerk nicht bloss um Technik geht, sondern auch um individuellen Ausdruck und Identität. Die Klöpplerin war Trägerin einer traditionellen Technik, aber gleichzeitig lebte sie auch ihre persönliche künstlerische Expressivität. Ihre Nachfahren bewundern vielleicht ihr Werk und betrachten es als Teil ihrer eigenen Identität. Wenn alles beliebig produzierbar und konsumierbar wird, gehen nicht nur Techniken verloren, sondern auch ein Stück Identität. 

Sollen wir uns der Industrialisierung des Bauens entgegenstellen? Oder versuchen wir, den Nachwuchs so auszubilden, dass er auch mit den neuen Werkzeugen einen baukulturellen Beitrag leisten kann?
Meyer: Es gilt, mit Bedacht zu bauen – ob mit alten oder neuen Werkzeugen. Der Mensch ­ent­wickelt sich und erfindet ständig etwas Neues. Das gehört zu seinem Wesen. Deshalb ist es wichtig, die Werke und die Techniken der Vergangenheit ganz bewusst zu bewahren, zu erforschen und zu pflegen.
Doch das reicht nicht; genauso wichtig ist es, in die Zukunft zu blicken. Führt es zwingend zu einem baukulturellen Verlust, wenn wir unsere Häuser mit Robotern bauen statt mit Handwerkern? Meiner Meinung nach hängt die Baukultur nicht allein an den Techniken, mit denen man Gebäude realisiert; entscheidend ist auch, wie und wozu man diese Techniken einsetzt.
Altenburger: Ich bin überzeugt, es macht einen gewaltigen Unterschied, ob der handwerkliche Einsatz des Menschen in der Realisierung eine Rolle gespielt hat. Es ist schon lange möglich, Musik in perfekter Qualität elektronisch abzuspielen. 
Trotzdem ist es kein Ersatz für das Erlebnis, in einem Konzertsaal mit Dirigent und Orchester zu sitzen. Deren Darbietung ist nicht immer so einheitlich perfekt. Doch Perfektion ist auf die Dauer langweilig; der Mensch braucht etwas anderes, etwas Leben­digeres und Menschlicheres. Wenn das aber so ist und das Handwerk tatsächlich eine unverzichtbare Komponente der Baukultur ist, dann wird sich sehr bald die Frage stellen, wer sich in Zukunft überhaupt noch Baukultur leisten kann. Denn was technisch möglich ist und Kosten spart, wird eines Tages um­gesetzt. In der Schweiz haben wir das Glück, in einem wunderbaren baukulturellen Umfeld zu leben – und übersehen, dass es keineswegs gesichert ist.
Cadosch: Das Handwerk ist ein wichtiger Teil unserer Baukultur, doch seine gesellschaftliche Wertschätzung erodiert. Vor 100 Jahren galt der Gipser als Künstler auf dem Bau; heute wird er ganz anders empfangen … Wir haben Mühe, fähige Fach­leute zu finden, weil wir nicht mehr bereit sind, ihnen einen entsprechenden Status zuzuerkennen.

 

«Uns fehlen übergeordnete Massstäbe.» Stefan Cadosch

Offenbar sind wir immer weniger gewillt, handwerkliche Qualität zu würdigen. Liegt das nur am Preis?
Cadosch: Hinzu kommt, dass es in unserer Gesellschaft immer weniger allgemein akzeptierte Werte gibt. In den gotischen Kathedralen zum Beispiel sind auch die Steine in den Fundationen sorgfältig behauen – Gott sieht schliesslich alles. Uns fehlen solche übergeordnete Massstäbe. 
Die Einschätzung, was richtig ist und was nicht, verschiebt sich immer mehr zum Einzelnen. Umso wichtiger ist es, den Berufsstolz und die gesellschaftliche Anerkennung der Baufachleute zu fördern, über alle Disziplinen und Berufsgattungen hinweg. Nur dann können wir gemeinsam Baukultur schaffen. Das betrifft sowohl die Pflege der Ver­gangenheit als auch die Zukunft mit all dem Neuen, das sie bringt.

Der technische Fortschritt hat sich so stark beschleunigt, dass immer weniger Zeit bleibt, einen reflektierten Umgang mit neuen Techniken zu finden.
Cadosch: Wir müssen lernen, mit dem Faktor Zeit anders umzugehen. Der Bau einer gotischen Kathedrale hat sich über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte hingezogen. Währenddessen hat sich die Welt verändert und ebenso die Baustile; doch gerade deswegen war der Bau, der diese Turbulenzen überdauert hat, für die Menschen ein starkes Identifikationsobjekt.
Heutige Gebäude werden rasch realisiert und haben keine Zeit heranzureifen. Sie bilden nicht mehr ein Jahrhundert ab, sondern bestenfalls ein Jahrzehnt; und weil sie nicht mit der Zeit gewachsen sind, veralten sie auch schneller. Das sind Veränderungen, die massive baukulturelle Auswirkungen haben und zu berücksichtigen sind.
Altenburger: Die Sehnsucht, über Generationen etwas zu entwickeln und sich Zeit zu lassen, existiert weiter. Aber sie wird unbezahlbar. Es fällt auf, dass heute solche Produkte als Luxus gelten, in denen viel Zeit, Handarbeit und natürliches Material stecken, auch wenn sie gar nicht spektakulär aussehen.

Wie steht es im Tiefbau? Das Strassen- oder das Kanalisationsnetz sind riesige Infrastrukturwerke, die über Generationen erbaut und angepasst werden.
Meyer: Infrastrukturbauten sind in der Regel auf eine lange Lebenszeit ausgelegt. Entsprechend haben Bauherren, Ingenieurinnen und Ingenieure ein sehr ausgeprägtes Bewusstsein und ein starkes Verantwortungsgefühl für diese Bauten. Sie benutzen daher gern den Begriff «Robustheit», der in der neuen Generation der Tragwerksnormen aufgenommen wurde. 
Dieser Begriff berücksichtigt unter anderem auch den Faktor Zeit und leistet so einen unbewussten Beitrag an unsere Baukultur. Schade ist nur, dass man sich dessen noch zu wenig bewusst ist. Die Glatttalbahn als ein sehr gutes Beispiel ist eine riesige Infrastruktur, die eben diese Robustheit aufweist; nebst dem Erfüllen aller technischen und sicherheitsrelevanten Aspekte wurde sie auch mit dem Willen geplant und realisiert, eine gute und nachhaltige Gestaltung zu verwirklichen. Die nachfolgenden Generationen werden dies erkennen und die Bahn in diesem Sinn, so hoffe ich, erweitern, verändern oder anpassen.

Kulturelle Leistungen sind immer das Werk vieler. Was hat Baukultur mit Interdisziplinärität zu tun?
Meyer: Ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit geht es nicht. Damit meine ich weniger, dass jede Disziplin auf der Arbeit der anderen aufbaut, sondern vielmehr, dass die Fachleute aktiv kooperieren, dass die Disziplinen zusammenwirken.
Altenburger: In diesem Zusammenhang möchte ich auf die positiven Auswirkungen von Baugesetzen und Normen hinweisen. Ein Beispiel: In den USA, wo es keine Höhenregulierung für Bauten gibt, ist es im Grund egal, wie hoch die Geschosshöhen OK-OK sind. Wenn der Gebäudetechniker für seine Installationen 1.5 m in Anspruch nimmt, weil er dann bestimmt alles irgendwie unterbringt, und wenn das Haus deswegen entsprechend höher wird, nimmt man das in Kauf. 
Man baut pragmatisch und aus meiner Sicht auch ohne Anspruch, ohne Stolz … Bei uns dagegen ist die Höhe limitiert, und wenn man ein Geschoss mehr realisiert, generiert man einen Mehrwert. Also optimiert man die Geschosshöhen – und das geht nur, wenn die Planer sich die Mühe geben, nachzudenken, zusammenzuarbeiten und Synergien zu nutzen. Diese Kultur ist in der Schweiz im internationalen Vergleich extrem stark ausgeprägt. Darauf dürfen wir stolz sein! 


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Baukultur als neues Politikfeld in Europa

In den vergangenen vierzig Jahren hat sich in Europa eine Bewegung herausgebildet, die in den einzelnen Ländern eine na­tionale Architekturpolitik etablieren und auf europäischer Ebene eine länderübergreifende Architekturpolitik ent­wickeln möchte. Das erste französische Architekturgesetz hielt 1977 fest: «Architektur ist ein Ausdruck der Kultur.» 1991 veröffentlichten die Niederlande die erste von mehreren Noten zur Architekturpolitik und gründeten eine Reihe von Kulturinstitutionen. Einen wichtigen Akzent setzte auch die «Finnische Architekturpolitik» von 1998.  Im deutschsprachigen Raum ­formiert sich die Initiative seit der Jahrtausendwende unter dem Begriff ­Baukultur. Den Auftakt machte Deutschland 2000 mit der «Initiative Architektur und Baukultur», die 2006 zur Gründung der «Bundesstiftung Baukultur» führte. Österreich lancierte ab 2006 ­einen regelmässigen Baukulturreport und gründete 2009 einen Beirat für Baukultur im Bundeskanzleramt. Bemerkenswerterweise schaltete sich die Schweiz, deren tatsächlich ­gelebte Baukultur auch international hohe Wertschätzung geniesst, als letztes deutschsprachiges Land in die politische Diskussion ein.  
 

Der SIA setzt sich ein

Der SIA initiierte im März 2010 den Runden Tisch Baukultur Schweiz, der im Juni 2011 ein Manifest herausgab. Es hält fest: «Es ist […] Aufgabe der ­Kulturpolitik, das baukulturelle Erbe zu bewahren und weiterzuentwickeln, das aktuelle Baukulturschaffen zu fördern und Baukultur in all ihren Facetten zu vermitteln.» In der Schweiz verstand man unter Baukultur bis dahin vor allem Heimatschutz und Denkmalpflege. Die Trias von Bewahren, Fördern und Vermitteln zielte darauf ab, dass die Kulturpolitik neben der historischen auch die zeitgenössische Bau­kultur berücksichtigt und als übergeordnetes Politikfeld Baukultur etabliert. Der europäische Hintergrund dieses Paradigmenwechsels war von Beginn an präsent. So veranstaltete der SIA im September 2010 die Tagung «Baukultur: Schweiz und Europa». Den ersten parlamentarischen Vorstoss zugunsten zeitgenössischer Baukultur lancierte der damalige Natio­nalrat Hans Stöckli 2011. Er forderte den Bundesrat auf, «die Basis für ein Förderkonzept der zeitgenössischen Architektur und der aktuellen Baukultur insgesamt zu schaffen und diese Grundlage in einem Bericht vorzulegen». Weitere Vorstösse folgten 2012 und 2013.


Die Kulturbotschaft des Bundesrats

Unter der Überschrift «Zeitgenössische Baukultur» sieht die Kulturbotschaft 2016–20 zwei wichtige Massnahmen­pakete vor: erstens die Erarbeitung ­einer interdepartementalen Strategie für Baukultur unter Federführung des ­Bundesamts für Kultur und zweitens Sensibilisierungsmassnahmen für Baukultur, etwa Testplanungen oder die Förderung des Wettbewerbswesens. Erste Eckwerte der Strategie sollen 2017 vorliegen. Sie sollen «generelle Ziele des Bundes für die Stärkung der Baukultur in der Schweiz» und «einen periodisch zu erneuernden Aktionsplan mit konkreten Massnahmen der einzelnen Bundesstellen» enthalten. Das ist ein wichtiger Schritt: Baukultur gilt jetzt auch in der Schweiz offiziell als Kultur. Nur aus der langen Tradition von Heimatschutz und Denkmalpflege heraus erklärt sich, dass die zeitgenössische Baukultur und die Baukultur im Allgemeinen fürs Erste unter Heimatschutz und Denkmalpflege aufgeführt sind. Denn Baukultur umfasst sowohl das kulturelle Erbe als auch das aktu­elle Baukulturschaffen und die Innova­tion. Die gleichberechtigte Einordnung von Heimatschutz und Denkmalpflege einerseits, zeitgenössischer Baukultur andererseits unter dem gemeinsamen Dachbegriff Baukultur wäre die logische Konsequenz. Angemessene Plattformen für zeitgenössische Baukultur, wie sie in anderen Kultursparten selbstverständlich sind, stehen bisher noch aus, etwa ein Bundespreis oder eine Eidgenössische Kommission für zeitgenössische Baukultur. Auch reicht die bisherige Förderung der Vermittlung von Baukultur an Laien aller Altersstufen nicht aus. Das Schweizerische Architekturmu­seum in Basel und Initiativen zur Vermittlung von Baukultur verdienen eine bessere Unterstützung. Die in der Kulturbotschaft neu für Baukultur vorgesehenen Mittel sind mit 500 000 Franken jährlich äusserst bescheiden bemessen. Doch der Anfang ist gemacht! Claudia Schwalfenberg, Verantwortliche Baukultur SIA, claudia.schwalfenberg [at] sia.ch

Eine ausführliche Version dieses Texts und Artikel zum Thema finden sich unter: www.sia.ch/de/themen/baukultur/

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