Bal­lett der Kräf­te

Beim MFH von Architekt Christian Kerez an der Krönleinstrasse in Zürich verlaufen Tragwerk und Raum scheinbar nahtlos von innen nach aussen. Ein genauer Blick in die Tragkonstruktion von Dr. Joseph Schwartz Consulting offenbart jedoch, welcher Kraftakt diese Inszenierung ermöglicht.

Publikationsdatum
12-03-2015
Revision
06-10-2015
Thomas Ekwall
MSc. EPFL Bau-Ing., MAS ETHZ Arch., Korrespondent TEC21

Der Sehnsucht nach transparenten Fassaden und stützenlosen Innenräumen gingen das eingespielte Team von Architekten und Ingenieure hartnäckig nach. Das gebaute Resultat erfüllt diese Vorstellung – insbesondere dort, wo es wirklich darauf ankommt: beim Ausblick auf den Zürichsee. Möglich wurde dies dank einem kühnen Stahlbau mit weiten Auskragungen, der folgendes Paradox in sich trägt: Das dominante Tragwerk wirkt monolithisch und steif, aber diese von aussen empfundenen Eigenschaften erweisen sich in den konstruktiven Details und im Gesamtverhalten als das Gegenteil.

Galgen statt Rahmen

Die Stahlkonstruktion besteht aus drei Paaren galgenförmiger Stabwerke, die windmühlenartig angeordnet sind. Ihre Dimensionen im Grundriss leiten sich von der Nutzung ab: Sie umfassen im Osten das Treppenhaus (Innenmass 2.55 × 4.40m), im Norden den Lift (1.70 × 1.80m) und im Westen den Haustechnikschacht (0.60 × 1.15m). Ein Galgen besteht aus einer drei Geschosse hohen Stütze sowie je einem Kragarm pro Geschoss, der darin eingespannt ist. Vergebens sucht man die Stütze am auskragenden Ende, die den Galgen zum klassischen Rahmen formulieren und ein gefühltes Gleichgewicht hervorrufen würde. Der Verzicht auf diese Stütze ist die technische Innovation des Tragwerks, er hat allerdings weitreichende Konsequenzen auf den Kräfteverlauf und stellt die Verhältnismässigkeit dieser Entwurfsidee stark infrage. Erst die Einspannung des Stützenfusses im Stahlbetonsockel des EG und die Rückverankerung mittels Zugstangen ermöglichen den 12.5m langen Krag­arm und stabilisieren das Tragwerk in horizontaler Richtung. Die einzelnen Galgen sind nicht selbsttragend, sondern wirken erst durch die vorgespannten Stahl­betondecken miteinander und werden proportional zu ihrer Steifigkeit beansprucht.

Kontrollierte Verformung

Die massiven Stahlträger kompensieren das besonders weiche Tragwerk: Ohne weitere Massnahmen würde sich die südliche Ecke des Bauwerks im Gebrauch um 12cm nach unten verformen. Damit die Kriterien der Gebrauchstauglichkeit erfüllt wurden, unternahmen die Ingenieure komplexe Berechnungen in der Planung und kluge Feinjustierungen auf der Baustelle.

Entsprechend der Verformung unter Eigengewicht wurde eine Vorverdrehung und Gegenkrümmung des Stahlbaus im Werk realisiert. Zudem wurde das Haus – analog zum Stimmen einer Gitarre – durch gezieltes Vorspannen der Zugstützen in der Fassadenebene gerichtet und ins Lot gebracht. Sämtliche Steifigkeitspotenziale wurden ausgereizt: Die 28cm dicke Spannbetondecke wirkt dank Kopfbolzendübeln im Verbund mit den Stahlträgern. Die Vorspannung der Decke entlang der Südwestfassade (Vorspannkraft P0= 3150 kN verteilt über 3 Kabel pro Geschoss) aktiviert der Betonanteil des Verbundträgers, damit er trotz ­Biegung stets ungerissen bleibt. Die Vorspannung der Decke senkrecht dazu (P0= 5600 kN über sieben Kabel pro Geschoss) gewährleistet ihrerseits das Zusammenwirken der einzelnen Galgen und verhindert starke Rissbildungen infolge Biegung der Deckenebene.

Das weiche Verhalten musste präzise erfasst werden: In der Regel vernachlässigbare Effekte wie die Weichheit der GFK-Verbindungen und die Drehweichheit des Rahmenknotens machen hier bis zu 40% der gesamten Vertikalverformungen aus. Weil der Gebrauchszustand massgebend ist, wird der Stahlbau in Bezug auf die Tragfähigkeit überdimensioniert. Als Vorteil erweisen sich die grossen Blechstärken im Hinblick auf das Brandverhalten: Im Innenbereich erfüllt das Tragwerk die R30-Anforderungen ohne Sprinkleranlagen oder dämmschichtbildende Anstriche. Nur die Stützen im Aussenbereich sind mit einem Zweikomponenten­anstrich versehen.

Thermisch unterbrochen, stark abstrahiert

Die Umsetzung dieser statischen Fingerübung im Gesamtsystem wird zusätzlich zur konstruktiven Herausforderung im Detail: Im Fassadenbereich, wo eine räumliche Kontinuität von innen nach aussen erreicht wird, passiert aus konstruktiver Sicht das Gegenteil: Das Tragwerk wird in kritischen Bereichen zerklüftet und wieder kraftschlüssig zusammengelegt. Die westliche Fassadenecke steht sinnbildlich für diese Massnahme.

Die thermische Trennung von innen und aussen entlang der Südwestfassade verläuft genau in der ­Achse des Stahlträgers. Im Detail ist dieser als zwei ge­schweisste Doppel-T-Träger konstruiert, die sich jeweils im kalten und im warmen Bereich befinden. Dazwischen liegen die Fassaden- und Schiebetürprofile mit einem vertikalen Spiel von 30mm zur Aufnahme von langfristigen Verformungen. Dort, wo die thermische Trennung um die Ecke entlang der Nordwestfassade verläuft, wird der innenliegende Stahlträger unterbrochen, wo die Beanspruchung am höchsten ist: Die Momente (Md bis 2 800 kNm) und Querkräfte (Vd bis 900 kN) werden über druckbeanspruchte Glasfaserkunststoffelemente weitergeleitet.

Die architektonische Idee der Transparenz konstruktiv umzusetzen hat weitreichende Konsequenzen auf die innere Tektonik. Dem Ingenieur standen viele Mittel zur Verfügung, handkehrum schränkten die­selben Kriterien seinen Spielraum stark ein. Als Beispiel dafür stehen die konstanten Stahlquerschnitte, die nicht auf die Intensität ihrer Beanspruchung abgestimmt wurden. Weil nicht die eigentliche Tragfähigkeit im Fokus stand, sondern eine maximale Abstraktion des Tragwerks, kann der Betrachter – trotz dem besonderen Stellenwert der Konstruktion für den Entwurf – kein Gefühl für den Kräfteverlauf entwickeln.

Die grosse Herausforderung für den Ingenieur bestand letztlich darin, dass die Verformung und nicht die Spannung massgebend war. Eine Bemessung des Tragwerks «auf der sicheren Seite» wäre kontraproduktiv gewesen, denn die Verformung durfte weder zu gross noch zu klein sein, sondern musste möglichst nah der Realität entsprechen. Angesichts der komplexen Zusammenhänge innerhalb des Tragwerks – langfristiges Kriechen des Betons, Nachgiebigkeit der Lager, Interaktion zwischen Beton, Stahl und Baugrund – setzt dieses Kunststück ein hohes Fachwissen voraus. 

Neven Kostic, Ingenieur im Büro Dr. Joseph Schwartz Consulting, bringt das Experiment auf den Punkt: «Dieses Haus ist ein architektonisches Bijou und nicht eine Suche nach allgemeinverträglichen Konzepten. Die konstruktiven Details, die dafür entwickelt wurden, sind einmalig und gehören nun diesem Haus.» 

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