Auf­ge­passt vor der Land­schafts­ro­man­tik!

Die Klagen über Zersiedelung und Mängel im Städtebau sind noch nicht abgeklungen. Unvermittelt reden aber alle davon, was ­ausserhalb ­der Siedlungsgrenzen geschieht. Zwei Lesebücher über den Reiz der Kulturlandschaft, die zur richtigen Zeit erscheinen.

Publikationsdatum
30-06-2016
Revision
01-07-2016

Wir schreiben das Jahr 2016: Zum fünfhundertsten Mal jährt sich der Geburtstag des Schweizer Naturforschers Conrad Gessner, der als einer der Ersten die Bergwelt erforschte. Die romantische Sichtweise von damals scheint sich aber bis heute zu halten.

Wie der aktuelle Fotowettbewerb zum Thema «Heimat» auf Blick-Online beweist, ist das einheimische Landschaftsbild nach wie vor populär: Auf das zweitgrösste Webportal der Schweiz werden Postkarten­­ansichten vom Matterhorn bis ­zum Oeschinensee hochgeladen; die meisten hätten auch vor einem halben Jahrtausend ein «Gefällt mir» der Aufklärer erhalten.

Zurück zu 2016: Vor drei Jahren stimmte die Bevölkerung der Schweiz deutlich Ja für die Revision des Raumplanungsgesetzes. Der damalige Wunsch, bedeutend haushälterischer mit Boden und Landschaft umzugehen, bleibt bis heute unerfüllt. Der Kanton Wallis teilte vor wenigen Wochen sogar freudig mit, dass der Bund die überdimensionierten Baulandreserven kaum antasten will.

Und weil die Raumplanungsmühle langsam mahlt, wird der Siedlungszuwachs auch in den übrigen Regionen kaum gebremst. Was bleibt der Psychohygiene übrig, als von Landschaften abseits der Pendlerströme zu schwärmen? Die Agglomerationen überwuchern allerdings bereits das «Ausserhalb». 

Die heile Welt ist in Gefahr

Den Raum Schweiz entwickeln nicht nur Architekten oder Stadtplaner, sondern auch Kräfte, die den Verkehr durchs Land rollen lassen, neue Energiequellen anzapfen wollen oder bedrohliche Naturgewalten zu bändigen versuchen. Der Druck auf die Natur- und Kulturlandschaften nimmt stetig zu. Die heile Welt der schönen Schweizer Berge und Täler scheint in akuter Gefahr. Mehrere Forschungsprojekte und Publikationen versuchen nun zu retten, was zu retten sein soll.

2005, vor elf Jahren, hat ­­das ETH-Studio Basel ein städtebau­liches Porträt verfasst, das mehr Ehrlichkeit im Umgang mit und in der Wahrnehmung von urbanisierten und stillgelegten Lebensräumen ­forderte. Neuerdings richten (fast) dieselben Autoren ihren Blick über die Stadtmauern hinaus auf das grüne Feld. Ihre Publikation «achtung: die Landschaft» ist aber keine Warnung vor der Rückeroberung, sondern ein Postulat, die letzten Landschaftsreste flanierend, analog dem Stadtwanderer, zu entdecken und den Zustand des unbebauten Territoriums als Fanal für ­eine gelungene Raumordnung zu betrachten. 

Die ETH-Publikation enthält das Eingeständnis, die Urbanisierung eher zu überschätzen, einen Aufruf, die freien Räume endlich hochwertiger zu gestalten, und zeugt vom Selbstvertrauen der Architekten und Städtebauer, auch die Landschaft mitprägen zu wollen. Aber müsste nicht zuerst der ro­mantisierende Blick auf das Landschaftspanorama entlarvt werden? Und welche wahren Schönheiten wären dann zu bewahren? 

Welche Wahrnehmung?

Die Antwort in «achtung: die Landschaft» ist diffus und nicht derart streitbar formuliert wie in der Vorgängerpublikation. Die Analyse, was die Landschaft drückt, wird anderswo genauso auf den Punkt gebracht. Unbefriedigend ist insbesondere, dass Hinweise auf einen normativen Wahrnehmungsraster fehlen.

Unklar bleibt daher, wie eine Kulturlandschaft gelesen werden soll respektive ob ein Eingriff nur negativ sein muss. Umso zwingender wäre eine Aktualisierung des Fachvokabulars, das die vielschichtige Phänomenologie und das zwitterhafte Wesen der Gebiete ausserhalb des Siedlungsraums verständlich beschreiben kann. 

Diese Wissens- und Verständnislücke zu füllen versucht eine neu erzählte «Geschichte der Landschaft in der Schweiz», die von Landschafts- und Raumforschern verschiedener Hochschulen und Fachbereiche zusammengetragen und vor Kurzem veröffentlicht worden ist. Einer Enzyklopädie ähnlich wird der stetige Wandel der Landschaft beschrieben, vom Beginn der letzten Eiszeit über den Bau des römischen Limes und der Nationalstrassen bis zur laufenden Diskussion um den Nationalpark Adula.

Aus archäologischen, ökologischen, kulturtheoretischen, historischen und politologischen Fäden wird ein Landschaftsteppich gesponnen, an dessen Handlungssträngen die vom Menschen veränderte, transformierte und bisweilen zerstörte Umgebung wiederzuentdecken ist. 

Nicht das einzige Dilemma

Die Krux mit Kulturlandschaften ist, dass sich Urteil, Wahrnehmung und Bewertung derselben schneller ändern als die jahrmillionenalte Morphologie und deren kleinräumige Ausprägung. 

Doch das ist nicht das einzige Dilemma, wenn der Charakter einer Landschaft bestimmt re­spektive ein menschlicher Eingriff als gut oder schlecht taxiert werden soll. Denn an einem Ort werden zusätzliche Bergbahnen als störend empfunden und bekämpft; an an­deren Orten wird so lang gestritten, bis eine historische Sesselbahn stehen bleiben kann. Und selbst Änderungen an einem künstlichen Stausee werden juristisch bisweilen als unnatürlich abgelehnt.

Das Buch über die Landschaftsgeschichte belässt es inhaltlich und formal bei der nüchternen Dokumentation von Veränderungen und Motiven. Die zurückhaltende Gestaltung ist zwar bedauerlich; wohltuend wirkt aber das durch die Lektüre gewonnene Grundverständnis, dass die weitere Entwicklung des nicht überbauten Raums und der Restlandschaften von den Voralpen bis ins Mittelland immer wieder neu ausgehandelt werden muss.

Die Landschafts-Anthologie und das als «List» im Klappentext bezeichnete Landschaftsplädoyer aus dem ETH-Studio ergänzen sich darum ideal, weil sie unabhängig voneinander den disziplinenübergreifenden Dialog über das kulturelle Landschaftserbe anstossen wollen. Wer sich jenseits verklärender Romantik mit der Entwicklung von Stadt und Land befassen will, dem sind darum beide Werke als Pflichtlektüre zu empfehlen.

Angaben zur Publikation


ETH-Studio Basel (Hrsg.): achtung: die Landschaft. Lässt sich die Stadt anders denken? Ein erster Versuch. Lars Müller Publishing 2015, Softcover, 112 Seiten, Fr. 30.–, ISBN 978-3-03778-483-9.
Jon Mathieu, Norman Backhaus, Katja Hürlimann, Matthias Bürgi (Hrsg.): Geschichte der Landschaft ­in der Schweiz. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart. Orell Füssli Verlag, 2016, gebunden, 382 Seiten, Fr. 49.90, ISBN 978-3-280-05601-1.
 

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