Am Be­darf vor­bei pro­du­ziert

Mit der älter werdenden Gesellschaft ändern sich auch die Ansprüche an das Wohnen. Die meisten Menschen wollen in den eigenen vier Wänden alt werden. Ein Blick in den Gebäudepark Schweiz zeigt jedoch, dass Wunsch und Realität hier weit auseinanderklaffen.

 

Publikationsdatum
23-08-2018
Revision
23-08-2018

Der Bauboom hat einen neuen Typus von Wohnungen hervorgebracht: grosszügiger Wohnungsgrundriss, grossflächige Fenster, Balkon, zwei Nasszellen und eine aufwendige Materialisierung. Trotz stetig steigender Preise blieb die Nachfrage jahrelang robust. Immobilienentwickler konnten gar nichts falsch machen.

Doch gab es früh Anzeichen, dass die Branche in gewissen Segmenten am Markt vorbei produziert. Seit Jahren erhöht sich die Anzahl leerer Wohnungen. Heute weisen viele Dörfer im Mittelland Leerstände von bis zu 4 % auf. Angebote sind also genügend vorhanden. Aber sind es die richtigen?

Demografische Trends ignoriert

In der Euphorie ging die Berücksichtigung fundamentaler gesellschaftlicher Entwicklungen vergessen. Dazu gehört die nicht neue Erkenntnis, dass die Gesellschaft immer älter wird. Überraschend ist indes die Geschwindigkeit: In den letzten 200 Jahren hat sich die Lebenserwartung in den westlichen Ländern verdoppelt.

Laut Bundesamt für Statistik (BfS) wird in der Schweiz die Gruppe der 65- bis 79-jährigen Menschen bis zum Jahr 2030 von rund 960 000 auf annähernd 1.5 Millionen Personen anwachsen. Bis 2030 wird sich die Anzahl der über 80-Jährigen nahezu verdoppeln.

Die Anforderungen ans Wohnen sind im Wandel. Konzepte wie Mehrgenerationenwohnen oder Projekte für Alterswohnungen finden viel mediale Beachtung, sind aber Nischenangebote. Der grösste Teil der älteren Bevölkerung lebt bis ins hohe Alter in einer eigenen Wohnung. «Aging in Place» ist schon heute Realität.

Bestehende Immobilien anpassen

Doch es fehlt an passenden Wohnungen, sei es in ländlichen Regionen oder in den Agglomerationen. Statistiken des BfS belegen, dass im wichtiger werdenden Segment der Wohnungen mit zwei bis drei Zimmern und einem ansprechenden, aber nicht luxuriösen Ausbaustandard ein akuter Mangel herrscht.

Viele ältere Personen wollen in erster Linie kostengünstige Wohnungen. Das bedeutet: weniger Räume, weniger Fläche, aber auch weniger Luxus. Heute wohnen viele der über 64-jährigen Personen in Wohnungen der Nachkriegs-Bauperiode von 1946 bis 1970. Weil sie über ­weniger Wohnfläche pro Zimmer verfügen und von eher schlechter Bausubstanz sind, kosten sie auch weniger. Die wenigsten dieser Wohnbauten sind allerdings altersgerecht. So fehlt zum Beispiel oft ein Lift, die Zugänge sind nicht barrierefrei, die Nasszellen sind eng und bergen Unfallgefahren.

Weil es aber an günstigen Wohnungen fehlt, ist der Anreiz für einen Umzug gering. Diese Konstellation ist überwiegend in den Agglomerationen anzutreffen – genau dort, wo künftig die Alterung stark zunehmen wird. Die Konsequenz: Da die Erneuerungsquote des Gebäudeparks zu tief ist, müssen bestehende Gebäude an die neuen Bedürfnisse angepasst werden.

Bedarfsgerechte Planung als Muss

Das bauliche Gestaltungspotenzial ist enorm. Eine im Kanton Baselstadt durchgeführte Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz zeigt, dass sich insbesondere Gebäude aus den Jahren 1960 bis 2000 mit geringer Eindringtiefe fit machen lassen. Auch für Sanierungen im Bestand sollte die SIA-Norm 500 Hindernisfreie Bauten Anwendung finden.

Hier liegt ein kreativer Anknüpfungspunkt: Die Entwicklung von Konzepten, die die individuellen Bedürfnisse der Lebensphase nach der Familien- und Erwerbszeit abdecken und gleichzeitig optimale Voraussetzungen für die sogenannte fragile Lebensphase bieten. Als eigenständig anerkannte Disziplin hat sich «Planen und Bauen für die ältere Bevölkerung» noch nicht etabliert. Ist es angesichts der demografischen Veränderungen nicht an der Zeit, das Thema auf die gleiche Stufe wie «Energie» oder «Verdichtung» zu setzen? Früher oder später geht es uns alle an.
 

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