Rät­sel­haf­ter Raum

Einleitung

Der Architekt Christian Kerez bespielt den Schweizer Pavillon an der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig. Sein «Incidental Space» ist ein Raum, der mit ästhetischen Konventionen bricht und die Wahrnehmung herausfordert. Hier wird sichtbar, was digitale Technologien und interdisziplinäre Zusammenarbeit heute ermöglichen.

 

Publikationsdatum
02-06-2016
Revision
03-06-2016

Ein Raum, der an nichts erinnert, keiner Konvention folgt und keinem anderen Zweck dient, als anders zu sein als alles, was man kennt: Die Installation im Schweizer Pavillon an der Architekturbiennale Venedig 2016 ist darauf ausgerichtet, den Rahmen des Gewohnten zu sprengen. Doch die systematische Vermeidung von geschicht­lichen, technischen oder ästhetischen Referenzen ist nicht Selbstzweck.

Vielmehr soll die Installation dazu anregen, darüber nachzudenken, wie wir Architektur erschaffen und erleben – und was darüber hinaus auch möglich wäre. Der Architekt und ETH-Professor Christian Kerez und die Kuratorin Sandra Oehy konfrontieren das Publikum mit einem Raum, der gleichermassen verstört und fasziniert.

Der Entwurfsprozess begann mit Abgüssen von Materialien und der Herstellung von Hohlformen (Abb. oben). Aus 300 Modellen wurde eines ausgewählt und digital erfasst, wobei wegen der hohen Komplexität der Formen unterschiedliche Techniken wie optischer und tomografischer Scan zum Einsatz kamen.

Deren Kombi­nation und die anschliessende Umsetzung des digitalen Modells erfolgten mit Unterstützung von Benjamin ­Dillenburger, Assistenzprofessor für Digitale Bautechnologien an der ETH Zürich (vgl. «Maschinelle Übersetzungen»). Auch die Fertigung der Schalungselemente für den geplanten Betonbau erforderte eine Kombination unterschiedlicher Methoden und Technologien: Die Elemente wurden mittels CNC-Fräse oder, wenn die Formen zu komplex waren, im 3-D-Druck hergestellt.

Statisch betrachtet ist die Installation eine selbsttragende Raumhülle. Deren Tragverhalten zu ­bestimmen war jedoch alles andere als trivial. Sehr dünne Schalen mit doppelter Krümmung sind statisch aus­serordentlich effizient; hier handelt es sich aber um eine frei geformte Schale, um ein Flächentragwerk also, das nicht nach den Kriterien des inneren Kräfteverlaufs geformt und statisch hochgradig überbestimmt ist.

Um die inneren Kräfte und das systemische Verhalten zu analysieren, wandte der Bauingenieur und ETH-Professor Joseph Schwartz die sogenannte Diskrete Analyse an. Diese Methode folgt dem Ansatz der grafischen Statik, bei der – im Gegensatz zur analytischen Statik – alle mathematischen Operationen vektorgeometrisch durchgeführt und frei von numerischen Berechnungen sind, sodass die Zusammenhänge zwischen Kraft und Form auch im Raum visuell fassbar werden (vgl. «Beherrschte Freiform»)

Die 1 bis 4 cm starke, glasfaserverstärkte Betonschale wurde schliesslich in wenigen Wochen und mit hohem handwerklichem Aufwand im Schweizer Pavillon erbaut. Dort steht das Gebilde nun: eine im Verhältnis zum beträchtlichen Volumen fragil anmutende Hülle um einen rätselhaften Raum im Raum. Wenn man diesen betritt, verlässt man das Gewohnte. Am ehesten erinnert der subtil ausgeleuchtete Innenraum an eine Grotte. Man kann darin verweilen, sich umsehen – und ins Sinnieren geraten.

An der Entstehung Beteiligte
 

Kommissäre
Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia – Marianne Burki, Leiterin Visuelle Künste; Sandi Paucic, Projektleiter Schweizer Auftritt Biennale Venedig
 

Stv. Kommissärin
Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia – Rachele Giudici Legittimo, Koordinatorin Schweizer Auftritt Biennale Venedig
 

Aussteller
Christian Kerez
 

Kuratorin
Sandra Oehy
 

In Zusammenarbeit mit
ETH Zürich D-Arch
 

Hauptsponsor
Holcim (Schweiz) AG
 

Beitrag unterstützt von
MartyDesignHaus
NCCR Digital Fabrication
 

Realisierungspartner
Adunic AG
 

Produktions- und Entwicklungspartner
ETH Zürich, Departement Architektur (Benjamin Dillenburger – Assistenzprofessor für digitale Bautechnologien; Joseph Schwartz – Professur für Tragwerks­entwurf; Karin Sander – Professur für Architektur und Kunst; Ludger Hovestadt – Professur für Computer-Aided Architectural Design; Christian Kerez – Professur für Architektur und Entwurf; Alessandro Tellini – Raplap D-Arch ETHZ)

ETH Zürich, Departement Informatik (Daniele Panozzo und Olga Sorkine-Hornung – Interactive Geometry Lab)

Christenguss AG Schweiz; Neuco AG; GOM International; Bürgin 3D Creations Switzerland; S. Müller Holzbau AG; Dr. Schwartz Consulting AG; Christian Kerez Zürich AG; Christian Fuchs Organic Form Productions; Dennert Poraver GmbH; Fibre Technologies International Ltd; Sika Schweiz AG; Goldschnitt
 

Christian Kerez Zürich AG / Lehrstuhl Christian Kerez ETH Zürich

Teamleiter:
Joni Kaçani, Lea Grunder

Mitarbeitende:
Melina Mezari, Poltak Pandjaitan, Nicolò Krättli, Adi Grüninger, Oliver Dubuis, Florian Christopher Seedorf, Nicholas Hoban, Hermes Kìller, Gianna Ledermann, Jann Erhard, Dimitrios Katsis, Victoria Fard

Studierende Biennale Atelier:
Antoine Bargain, Marco Carraro, Monika Dobra­kowska, Victoria Fard, Micol Galeotti, Tommaso Gomiero, Martina Ivancic, Katia Jancikic, Dimitrios Katsis, Michel Kessler, Jens Knöpfel, Yiqiu Liu, Niti Malik, Iacopo Manini, Alessandro Mazza, Giulia Migliaccio, Francesca Pasqual, Matija Peric, Simona Quagliano, Wilhelm Reitzer, Luca Rizzo, Rina Rolli, Yuki Shimizu, Michael Thoma, Joana Tschopp, Nathanael Weiss
 

Graphic Design und visuelle Kommunikation
Ludovic Balland Typography Cabinet
 

Medienpartner
ARCH+; espazium – Der Verlag für Baukultur
 

www.biennials.ch
www.kerez.ch

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