Un­kon­trol­lier­te Bau­kon­trol­le

In den Leistungs- und Honorarordnungen des SIA sind nicht alle Leistungen abschliessend definiert. Weshalb das so ist und wie sich die Unkenntnis solcher «unbestimmten Rechtsbegriffe» auswirken kann, zeigt das Beispiel eines einsturzgefährdeten Neubaus.

Publikationsdatum
02-11-2022

Ein «unbestimmter Rechtsbegriff» ist gemäss Rechtslehre ein Begriff, der bewusst nicht abschliessend definiert ist, also Interpretationsspielraum offenlässt. Ein Beispiel für einen solchen «unbestimmten Rechtsbegriff» ist die «Baukontrolle».

Gemäss SIA 112 Modell Bauplanung (2014) beinhaltet sie «die periodische Überwachung der Bauausführung der durch den Fachplaner bearbeiteten Bauteile. Die Baukontrolle stellt keine Bauleitung dar, sondern ergänzt sie.» Was unter «periodisch» oder «ergänzen» zu verstehen ist, bleibt im Nebel der Interpretationen. Wie belastbar die erfolgte «Kontrolle» ist, bleibt ebenfalls offen. Die möglicherweise nur schwer nachvollziehbare Offenheit der Formulierung hat aus Warte der Juristen durchaus einen Grund: Je präziser formuliert, umso schwieriger sei es, den Anforderungen an Vollständigkeit und Verständlichkeit gerecht zu werden.

Im Zusammenhang mit Leistungsbeschrieben besonders relevant: Mit zunehmendem Detaillierungsgrad steigen in der Regel auch die Ansprüche des Bestellers. Bei den Leistungs- und Honorarordnungen des SIA kommt hinzu, dass sie als Vertragsgrundlage eine Vielzahl von Fällen abdecken sollen. Sie bewegen sich daher bewusst auf abstrakter Flughöhe. Projektspezifisches muss individuell im Vertrag geregelt werden.

Elektrosmog und verpuffte Statik

Wie sich ein unbestimmter Rechtsbegriff auf der Baustelle auswirken kann, hat ein Ingenieurbüro schmerzhaft am Beispiel der Baukontrolle einer mittelgrossen Wohnüberbauung in Zürich erfahren. Das Projekt umfasst zwei identische Mehrfamilienhäuser mit je 40 Wohnungen, auszuführen in Massivbauweise mit Tragstruktur in Stahlbeton. Für die Tragwerksplaner eine Standardaufgabe. Die Ausführungspläne sind rasch erstellt. Die Umsetzung ist Sache der Unternehmer. Für die Leitung, Koordination und Beaufsichtigung der Arbeiten auf der Baustelle sorgt die Bauleitung. Die Ingenieure werden als Fach­planer nur noch periodisch von der Bauleitung zur Baukontrolle aufgeboten.

Da die Bauherrin an Elektrosensibilität leidet, wurde bei diesem Projekt bereits in der Planungsphase ein Spezialist für Elektrosmog beigezogen. Die Leitungsführung konnte somit strahlungsoptimiert platziert und mit der Statik abgestimmt werden. Während der Realisierungsphase entschied sich der Spezialist, das Konzept nochmals vor Ort zu überprüfen. Das gesamte Projektteam wurde von der Bauleitung zu einer gemein­samen Begehung eingeladen. Der Bauingenieur war an diesem Tag allerdings verhindert. Dank dem Augenschein vor Ort gelang es dem Spezialisten, die Leitungsführung weiter zu optimieren. Neu sollte diese zentrisch über den tragenden Wänden platziert werden. Das leuchtete allen Anwesenden ein.

Das Bauingenieurbüro wurde über den Entscheid nicht informiert. Bei der darauf­folgenden Baukontrolle entdeckte der Bauingenieur die fundamentale Schwächung der statischen Kon­struktion durch die neue Leitungsführung. Leibliche Schäden hatte es keine ­gegeben. Doch wer sollte für die Sanierung des neuen Rohbaus aufkommen?

Sorgfalt oder Sorgenfalle

Bei Haftungsfragen wird unterschieden nach Auftrags- und Werkvertragsrecht. Liegt ein Auftragsverhältnis vor, ist die Einhaltung der Sorgfaltspflicht massgebend. Beim Werkvertrag ist es der Erfolg, also die sachgerechte Ausführung der Bestellung. Der Unternehmer ist nach Werkvertrag demnach dazu verpflichtet, seine Arbeiten gemäss den Ausführungsplänen umzusetzen. Tut er dies nicht, kann ein mangelhaftes Werk geltend gemacht werden.

Die Bauleitung tritt gegenüber dem Unternehmer als Vertreterin der Bauherrschaft auf, mit den entsprechenden Rechten und Pflichten. Im Auftrag der Bauherrschaft leitet, koordiniert und beaufsichtigt die Bauleitung die Arbeiten auf der Baustelle. Damit ist sie für die Abwicklung des Werkvertrags entscheidend mitverantwortlich. Wie das Planerteam untersteht aber auch die Bauleitung als Mandantin der Bauherrin dem Auftragsrecht.

Damit scheint die Auslegung für den geschilderten Fall klar: Der Unternehmer hat ein mangelhaftes Werk ausgeführt. Die Bauleitung ist ihrer treuhänderischen Funktion nicht nachgekommen, die Expertise des Bauingenieurs hinsichtlich der wesentlichen Planänderung einzuholen. Die Argumentationskette der an der Planänderung Beteiligten verlief jedoch anders: Der Spezialist gab zu Protokoll, die Sorgfaltspflicht habe er für seinen Bereich eingehalten. Der Einzige, der etwas von Statik verstehe, sei der Bauingenieur. Entsprechend argumentierte auch der Bauleiter: Trotz Einladung sei der Bauingenieur nicht zur Begehung bzw. Kontrolle erschienen. Damit wussten Bauleiter und Spezialist in den Vergleichsgesprächen zu überzeugen. Die Hauptlast trug die Versicherung des Bauingenieurbüros. Die übrigen Beteiligten hafteten minimal.

Solche Rechtsfälle lassen sich über eindeutige Vereinbarungen vermeiden. Die Vertragspartner sollten gleich zu Beginn im Projektpflichtenheft festlegen, wie sie «unbestimmte Rechtsbegriffe» auslegen. Bedeutet «periodisch» einmal wöchentlich oder alle zwei Tage? Im Projektpflichtenheft klar zu regeln sind auch Zuständigkeiten, Entscheidungswege und der Sitzungsraster.

Begleitend zur Ausführung empfiehlt sich das Führen eines Baujournals. Problempunkte sind an den Sitzungen offen zu adressieren. Kommunikation und gemeinsames Verständnis bleiben das A und O. Dieses «penible» Vorgehen kommt schliesslich allen zugute. Eine «periodische Baukontrolle» bedeutet nämlich nicht automatisch so oft wie nötig, wie im Streitfall gern argumentiert wird. Wird die Frequenz nicht festgelegt, wird der Richter sich im Schadenfall fragen, was die Parteien nach Treu und Glauben erwarten durften.

Und selbst wenn eine Baukontrolle erfolgt ist, der Ingenieur einen Mangel aber nicht erkannt hat, haftet er nicht automatisch. Eine Baukontrolle ist nicht gleichbedeutend mit einer Abnahme. Auch dieser Fall wäre somit eine Frage der Auslegung der Sorgfaltspflicht und damit wiederum ein Mandat für die Juristen.

Von bestimmter zu unbestimmter Baukontrolle

Der Begriff «Baukontrolle» findet erstmals 1969 Eingang in die damalige Ordnung SIA 103 für Arbeiten und Honorare der Bauingenieure und bleibt bis auf Weiteres deren fester Bestandteil. Sinn und Zweck der Begriffseinführung ist die Abgrenzung des Ingenieurs in seiner Rolle als Fachplaner zum Architekten in seiner Rolle als Gesamtleiter: «Bei der Ausführung liegt die Bauleitung beim Architekten. Der Ingenieur übt lediglich die periodische Baukontrolle über die Tragkonstruktionen aus.» (SIA 103, 1969, Art. 3.6)
 

Zur Verantwortung der örtlichen Bauleitung wird festgehalten: «Sie sorgt dafür, dass die Weisungen des Projektverfassers durch den Unternehmer befolgt werden, und nimmt allfällige Pro­jekt­änderungen nur im Einvernehmen mit dem Projektverfasser vor. Sie hat den Projektverfasser laufend zu informieren und regelmässig, aber speziell bei aussergewöhnlichen Vorkommnissen zu benachrichtigen und zum Besuch der Baustelle aufzufordern.» (SIA 103, 1969, Art. 19.5 l) Die Intention des Begriffs hat sich bis heute gehalten. Der hohe Determinierungsgrad ist aber dem «unbestimmten Rechtsbegriff» gewichen – mit allen damit verbundenen Chancen und Unterlassungsrisiken.

Rollen und Funktionen nach SIA 112, 2014

  • Das Planerteam setzt sich aus dem Gesamtleiter, den Fachplanern und den Spezialisten zusammen.
  • Die Gesamtleitung besteht in der Leitung und Koordination des Planerteams sowie in der Gewährleistung der Kommunikation mit dem Auftraggeber, weiteren Baubeteiligten und Dritten.
  • Als Fachplaner werden Planer bezeichnet, die nicht die Gesamtleitung ausüben.
  • Als Spezialist wird eine Fachperson bezeichnet, die für das Planerteam spezielle Aspekte eines Bauwerks bearbeitet.
  • Die Bauleitung vertritt den Bauherrn oder den Auftraggeber gegenüber den Unternehmern und Lieferanten. Sie leitet, koordiniert und beaufsichtigt die Arbeiten auf der Baustelle.
  • Die Baukontrolle beinhaltet die periodische Überwachung der Bauausführung der durch den Fachplaner bearbeiteten Bauteile durch den Fachplaner. Die Baukontrolle stellt keine Bauleitung dar, sondern ergänzt sie. 

Verwandte Beiträge